Ich war ein stiller Junkie, bevor ich wusste, dass man süchtig sein kann. Meine Droge: Buchstaben. Ich schob einen Küchentisch ans Wohnzimmerfenster, legte ein Buch auf die Fensterbank, setzte mich drauf und verschwand. Blyton, Lindgren, Defoe, Cooper, London, Karl verdammter May. Alle meine Dealer standen im Regal. Mein Vater sagte einmal: „Wenn das Haus zusammenstürzen würde, würdest du’s nicht merken.“ Er hatte recht. Die Welt konnte brennen, solange ich zwischen den Seiten atmete.
Unter mir: Stallgeruch. Rechts die Kühe, links der Schweinestall für zwei, drei Schweine mit Charakter. Darüber die Hühner, hektische, flatternde Anarchisten. Zehn Meter weiter dampfte der Misthaufen wie ein kleines Atomkraftwerk aus Scheiße. Und genau gegenüber, über die Hofausfahrt hinaus, stand das katholische Schwesternhaus. Ein Konvent mit fünf schwarzen Schatten, die für alles zuständig waren: Kinder, Kranke, Kräuter, Kirche. Und, wichtiger als alles andere: Bücher.
Denn diese Schwestern betrieben die Pfarrbücherei. Und obwohl ich ein protestantischer Bauernbub war, einer von „den anderen“, durfte ich dort rein. Eine interkonfessionelle Ausnahme aus Gnade oder Kalkül, wer weiß. Vielleicht, weil mein Vater dreimal die Woche Milch ins Pfarrhaus schickte. Vielleicht, weil die Schwestern dafür Kartoffeln und Wurst bekamen. Religion war Nebensache, solange die Tauschlogistik funktionierte.
Nur einmal ging’s schief. Ich sollte Milch bringen. Sagte brav: „Ich bringe die Milch für dem Herrn Pfarrer seine Königin.“ Statt Köchin. Das ganze Dorf lachte sich wochenlang die Seele wund. Ich hatte keinen Schimmer, was Sex ist, und vom Zölibat wusste ich noch weniger. Ich war acht. Und meine Welt bestand aus Geschichten, nicht aus Sünden.
Ich las alles, was ich kriegen konnte. Verschlang Bücher wie andere Schokolade. Und als ich mit acht die Kinder- und Jugendabteilung leergefressen hatte, drückte mir die „Bücherschwester“ verbotene Ware in die Hand: ausgewählte Erwachsenenliteratur. Ich schwöre, sie wusste, was sie tat. Sie öffnete keine Tür, sie sprengte eine Mauer.
Heute steht das Pfarrhaus leer. Die Kirche teilen sich Katholiken und Protestanten, weil keiner mehr genug Gläubige für den ganzen Bau hat. Das Schwesternhaus wurde saniert. Jetzt wartet es leer auf ein Wunder oder wenigstens einen solventen Investor. Die Ordensfrauen sind weg, das WLAN schwach, die Seele noch schwächer.
Ich wohne 500 Kilometer entfernt, aber der Geruch von Stall und Druckerschwärze hängt mir immer noch in der Nase. Die Bücher von damals haben meine Welt aufgerissen … größer, wilder, gefährlicher. Ich habe viele Fenster seither gesehen, aber keins war so weit offen wie das am Wohnzimmer, damals, über dem dampfenden Misthaufen.