Der Lesende Klosterschüler oder: Wie ein Stück Holz die Freiheit rettete

Ein dünnes Buch. 160 Seiten. Kaum genug Papier, um eine Zigarette drauf zu drehen. Aber was Alfred Andersch 1957 mit „Sansibar oder der letzte Grund“ rausgehauen hat, war kein Roman im bürgerlichen Sinne. Kein Bildungsroman, keine fein geschliffene Prosa fürs Parkett. Das Ding ist ein Sprengsatz … eine kleine, stoische Anleitung zum Freiwerden in einer Zeit, in der Denken lebensgefährlich war.

Die Bühne: Rerik. Ostsee. Wind, Salz, Dreck, Verzweiflung. Fünf verlorene Gestalten schleichen durch diese Nazi-Nebelwelt:
Knudsen, der Fischer mit der Stirn wie ein Sturm.
Sein Schiffsjunge … jung, angefressen, will raus, egal wohin.
Pfarrer Helander, ein frommer Mann, der Gott inzwischen nur noch anschweigt.
Judith, die jüdische Frau aus Hamburg, die mehr flieht als lebt.
Und Gregor, ein Kommunist auf der Flucht vor seiner eigenen Partei.

Alle sind sie beschädigt, gebrochen, irgendwo zwischen Glaube und Kotze, zwischen Ideologie und Müdigkeit. Und mittendrin steht er: der Lesende Klosterschüler. Ein Stück Holz von Ernst Barlach, offiziell „entartet“, inoffiziell die reinste Provokation gegen jede Form von geistiger Kettenhaltung.

Diese Holzfigur liest. Still. Frei. Ohne Auftrag. Ohne Partei. Ohne Gott.
Und genau das bringt Gregor, den müden Revolutionär, ins Wanken.
Er sieht in diesem stillen Holzjungen mehr Revolution als in allen Pamphleten der Partei. Ein Wesen, das einfach liest, weil es will. Nicht, weil es darf.

Und Judith? Die sieht’s auch. „Er liest alles, was er will,“ sagt sie. „Und weil er alles liest, was er will, soll er eingesperrt werden.“
Das ist Deutschland 1937 in einem Satz. Und, verdammt noch mal, auch 2025 nicht ganz falsch.

Am Ende ist das Buch keine Geschichte von Flucht, sondern von Eigensinn.
Von der schmutzigen, ungezähmten Freiheit des Denkens. Von der gefährlichsten aller Tätigkeiten: Lesen ohne Auftrag.

Das ist Sansibar oder der letzte Grund. Ein Handbuch für die innere Emigration. Eine Predigt gegen alle, die uns vorschreiben wollen, was und wie wir denken sollen. Ein Aufruf, den eigenen Text zu lesen, während draußen wieder Leute mit Fackeln marschieren.

Oder, wie Anderschs Holzjunge es ausdrücken würde, ohne ein Wort zu sagen:
„Ich lese. Also bin ich frei.“

Sansibar oder der letzte Grund