Richtiges Lesen, sagen sie, hängt von der Schriftart ab. Ach was. Es hängt davon ab, ob du noch klar im Kopf bist, wenn du das nächste Manifest auf deinem Smartphone liest, während du in der S-Bahn zwischen zwei Influencern eingeklemmt bist, die „Authentizität“ in Großbuchstaben schreien.
Schriftarten! Diese kleine Bürgerkriege der Typografen. Auf Papier tragen sie Serifen, als wollten sie sich anständig anziehen für die Beerdigung des Analogen. Times, Garamond, Sabon. Das sind die Anzugträger unter den Fonts. Sie führen das Auge wie ein höflicher Kellner durch den Satz. „Hier entlang, bitte, nichts übersehen.“
Und auf dem Bildschirm? Da heißt das Motto: nackt und sauber. Serifenlose Schriften, glatt wie frisch rasiert. Arial, Helvetica, Verdana. Keine Haltung, keine Geschichte, nur Funktion. Der Corporate-Schriftzug des 21. Jahrhunderts, optimiert fürs Scrollen.
Aber das Licht! Das Licht ist der wahre Diktator!
Weiß blendet, Schwarz schreit. Wir lesen heute auf Displays, die heller leuchten als die Wahrheit. Wer da nicht Augenkrebs kriegt, liest nicht schnell, sondern verzweifelt. Darum die Empfehlung der Weisen: Eierschale. Vanille. Creme. Als wären unsere Augen ein Dessert.
Doch Lesen hat Rhythmus. Eine Zeile zu lang, und dein Gehirn stolpert. Zu eng, und du kriegst Platzangst zwischen den Buchstaben. Typografie ist Tanzfläche. Zu viele Wörter, zu wenig Raum … und du tanzt Walzer in einer Besenkammer.
Times liebt die Zeitung, Georgia liebt den Roman, Courier liebt die Schreibmaschine. Courier, das ist Whisky auf Papier. Ehrlich, grob, verrauscht.
Times ist dein Lehrer im grauen Sakko, der die Welt erklärt, aber nie küsst.
Frutiger ist Flughafenlicht, antiseptisch, effizient. Und Rotis? Rotis hat Haltung, diese deutsche Ernsthaftigkeit, die nach Ratio riecht. Otl Aicher in Reinform: Bauhaus auf LSD.
Jede Schrift ist ein Charakter. Und während du liest, liest dein Gehirn ihre Herkunft. Du liest den Sozialstatus des Buchstabens. Den Akzent. Die Moral. Und irgendwo zwischen den Zeilen fragst du dich: Wer spricht hier eigentlich? Der Text … oder seine Maske?
Die schnellste Schrift? Gibt’s nicht. Weil Lesen kein Rennen ist, sondern eine Verhandlung zwischen Auge, Licht und Bedeutung. Zwischen dem, was du siehst, und dem, was du glaubst.
Vielleicht ist das Lesen in Wahrheit nur das: Ein stilles Abkommen zwischen Mensch und Zeichen, zwischen Chaos und Ordnung, zwischen dir und mir, der gerade überlegt, in welcher Typo er dir die Buchstaben auf den Tisch kacken soll.