Grauer Dämmer, goldene Chips. Spaziergang durchs Jahr 2040

Es sind nicht eine, sondern drei Entwicklungen. Drei tektonische Verschiebungen unter der dünnen Kruste namens „Zivilisation“. Erstens: Die Jugend verschwindet. Europa, Japan, Korea – ganze Kontinente voller Senioren, die in Cafés über Pflegepunkte diskutieren, während Roboter den Cappuccino servieren. Zweitens: Zuwanderung als Überlebensmodus – der Versuch, das bröckelnde Kartenhaus mit frischem Blut zu stützen. Drittens: Künstliche Intelligenz. Der digitale Staubsauger, der langsam, aber unaufhaltsam jeden letzten Arbeitsplatz einsaugt.

Niemand weiß, wie die Zukunft aussieht – aber wenn ich in meine private Kristallkugel starre, sehe ich mich selbst, 76, mit einem leicht kaputten Knie und einem Rest Ironie, durch Weiden in der Oberpfalz schlurfen. 2040. Mein Lieblingsstädtchen. Ich trage eine Sonnenbrille gegen die grelle Melancholie des Fortschritts. Überall ist Zukunft, aber sie riecht nach Desinfektionsmittel und Akkusäure.

Ich sehe Pflegeheime, halb Mensch, halb Maschine. Roboter, die mit Greifarmen den Puls messen, während eine betagte Pflegerin aus Polen leise singt. Ich sehe Schulen, in denen Kinder von Lehr-KIs lernen, aber ihre Abschlussprüfungen über die Märchen ihrer Großeltern schreiben. Und ich sehe Kirchen und Moscheen, die gemeinsam Suppenküchen betreiben. Weil sie irgendwann begriffen, dass Hunger keine Religion hat.

Vielleicht war das die wahre Revolution der 2030er: Wir haben aufgehört, die Welt besitzen zu wollen. Wir haben gelernt, sie zu teilen, mit Fremden, mit Maschinen, mit der eigenen Müdigkeit. Es war kein goldenes Zeitalter. Es war grau, aber stabil. Ein Jahrzehnt im Standgas.

Die wahre Sensation jener Jahre war nicht die KI, nicht die Energiekrise, nicht die Migration … sondern das Altern. Die Menschheit welkte wie ein altes Foto. Auf den Straßen sah man weniger Kinderwagen, mehr Rollatoren. Weniger Neubauten, mehr geschlossene Arztpraxen. Die Städte wurden stiller, aber die Systeme liefen weiter, wie Automaten in Zeitlupe. Der Stillstand funktionierte.

Und die KIs? Sie waren wie Morphium. Ein technisches Betäubungsmittel für eine überforderte Spezies. Sie nahmen uns das Denken ab, das Tippen, das Sortieren, das Streiten. Texte schrieben sich von selbst, Gesichter in den Nachrichten waren makellos synthetisch, und die Musik im Café klang so perfekt, dass man sie hasste.

Die Migration war der einzige echte Pulsschlag. Junge Menschen kamen, arbeiteten, zahlten Steuern, retteten Renten. Aber sie bauten nicht unsere Zukunft, sondern ihre. Und wer konnte es ihnen verdenken? Wir hatten keine Vision mehr, nur Verwaltung. Keine Geschichten, nur Regularien. Ein Land voller Regeln und leerer Versprechen.

Die Spannungen wuchsen. Nicht zwischen Deutschen und Zugewanderten, sondern zwischen Lebensgefühlen. Zwischen den Digitalisierten und den Überlebenden. Zwischen Menschen, die noch wussten, wie sich Handwerk anfühlt, und jenen, die schon verlernt hatten, wie man Hände benutzt.

Währenddessen schrieben KIs die Reden der Minister, kalkulierten die Haushalte, übersetzten Parlamentsdebatten in Dutzende Sprachen – sogar ins Bairische. Der Fortschritt hatte den Streit abgeschafft, und wir hielten das für Frieden.

Doch irgendwo, zwischen dem letzten Servercluster und dem ersten Sonnenaufgang, begann etwas zu glimmen. Kleine Nachbarschaftsgärten, Gemeinschaftswohnungen, offene Werkstätten. Menschen, die wieder miteinander redeten – ohne App, ohne Avatar, ohne Algorithmus. Keine Bewegung, kein Manifest, kein Hashtag.

Sie nannten es nicht Widerstand.
Sie nannten es einfach Leben.